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Du schneidest Wunden in mein Fleisch und schreibst mit Salz darin!
Wehklage der Fremen
Warrick überlebte, obwohl Liet-Kynes außer einem einfachen Erste-Hilfe-Set in seinem Überlebenssatz keine medizinischen Hilfsmittel zur Verfügung hatte.
Blind vor Trauer und Schuldgefühlen zerrte Liet seinen fast toten Freund auf den Rücken eines Wurms. Während der langen Rückreise zum Sietch teilte Liet sein Wasser mit ihm und gab sich alle Mühe, Warricks zerfetzten Destillanzug zu reparieren.
Die Menschen im Rotwall-Sietch weinten und klagten. Faroula, die großes Geschick im Umgang mit Heilkräutern besaß, wich nicht mehr von der Seite ihres Mannes. Sie pflegte ihn Stunde um Stunde, während er apathisch und blind dalag und sich an die Reste seines Lebens klammerte.
Man hatte Warricks Gesicht bandagiert, doch seine Haut würde nicht mehr nachwachsen. Liet hatte gehört, dass die genetischen Hexenmeister der Bene Tleilax neue Augen, neue Gliedmaßen und neues Gewebe schaffen konnten, aber die Fremen würden solche Wunderheilungen niemals zulassen, nicht einmal für einen der ihren. Die Sietch-Ältesten und die ängstlichen Kinder machten bereits Abwehrzeichen, wenn sie sich dem Vorhang vor Warricks Wohnung näherten, als würden sie den Einfluss eines hässlichen Dämons fürchten.
Heinar, der alte einäugige Naib, besuchte seinen verunstalteten Schwiegersohn. Faroula machte einen leidgeprüften Eindruck, wie sie neben der Pritsche ihres Mannes kniete. Früher war sie humorvoll und schlagfertig gewesen und hatte gerne gelacht, doch nun war ihr elfenhaftes Gesicht verhärmt. Ihre lebhaften und neugierigen Augen waren in hilfloser Verzweiflung geweitet. Obwohl Warrick nicht gestorben war, trug sie einen gelben Nezhoni-Schal als Zeichen der Trauer.
Der Naib berief den Ältestenrat ein, dem Liet-Kynes genau berichtete, was geschehen war. Er wollte, dass die ernsten Männer verstanden und zu würdigen wussten, welches große Opfer Warrick gebracht hatte. Der junge Mann sollte als Held verehrt werden. Seine Taten sollten in Gedichten und ehrenhaften Gesängen verewigt werden. Nur leider hatte Warrick einen schweren Fehler begangen.
Er war nicht gestorben.
Heinar und die Ältesten trafen die Vorbereitungen für eine Fremen-Bestattung. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, sagten sie. Der völlig verstümmelte Mann konnte einfach nicht überleben.
Trotzdem lebte er weiter.
Unter der Einwirkung heilender Salben hörten Warricks Wunden auf zu bluten. Faroula fütterte ihn, und häufig sah Liet zu, während er sich verzweifelt wünschte, er könnte irgendetwas tun, um seinem Freund zu helfen. Doch selbst der Sohn von Umma Kynes war nicht in der Lage, die nötigen Wunder zu bewirken. Warricks Sohn Liet-chih, der noch zu jung war, um die Tragödie zu verstehen, wurde von seinen trauernden Großeltern versorgt.
Obwohl Warrick wie ein halb verwester Leichnam aussah, roch sein Körper nicht nach Krankheit und Entzündung, und seine Wunden eiterten nicht. Stattdessen verheilten sie auf ungewöhnliche Weise, auch wenn sich nicht überall neue Haut über den freiliegenden Knochen bildete. Seine starren, lidlosen Augen würden sich nie wieder zum friedlichen Schlaf schließen. Er würde auf ewig in der Nacht der Blindheit leben.
Wenn Faroula über ihn wachte, sprach Liet an ihrer Seite flüsternd mit seinem Freund. Er erzählte ihm Geschichten von Salusa Secundus und aus der Zeit, als sie gemeinsam gegen Harkonnen-Truppen gekämpft hatten, wie sie sich zum Köder gemacht hatten, um die feindlichen Späher zu töten, die den Brunnen des Bilar-Lagers vergiftet hatten.
Warrick lag reglos da, Tag um Tag, Stunde um Stunde.
Faroula neigte den Kopf und sagte mit einer Stimme, die kaum über ihre Kehle hinausdrang: »Was haben wir getan, um Shai-Hulud so sehr zu erzürnen? Warum werden wir auf diese Weise bestraft?«
Während des bedrückenden Schweigens suchte Liet nach einer Antwort auf ihre Frage. Doch dann regte sich Warrick. Faroula keuchte und wich ein Stück zurück. Ihr Mann setzte sich auf, seine lidlosen Augen bewegten sich, als wollten sie den Blick auf irgendetwas konzentrieren.
Dann sprach er. Die Sehnen, die seinen Kiefer zusammenhielten, seine freiliegenden Zähne und die verstümmelte Zunge bewegten sich und bildeten raue Worte.
»Ich habe eine Vision gehabt. Jetzt weiß ich, was ich tun muss.«
* * *
Mehrere Tage trottete Warrick durch die Gänge des Sietches – langsam, aber zielstrebig. Der Blinde fand den Weg, indem er sich behutsam vortastete und sich von einem mystischen inneren Auge leiten ließ. Wenn er sich in den Schatten bewegte, wirkte er wie die Karikatur einer Leiche. Seine Stimme war tief und trocken wie Papier, doch seine Worte hatten etwas Bezwingendes.
Die Menschen wollten flüchten, trotzdem konnten sie sich nicht losreißen, wenn er sprach. »Als ich im Sturm verloren war, in jenem Moment, als ich dem Tod hätte begegnen müssen, flüsterte eine Stimme zu mir aus dem Sand und Wind. Es war die Stimme Shai-Huluds, die mir sagte, weshalb ich diese Leiden erdulden muss.«
Faroula, die immer noch Gelb trug, versuchte ihren Mann zu bewegen, in ihre Familiengemächer zurückzukehren.
Obwohl die Fremen es vermieden, ihn anzusprechen, hörten sie ihm gebannt zu. Schließlich war es durchaus vorstellbar, dass jemand wie Warrick, der die Gewalten eines Sturms erlitten hatte, zum Empfänger einer heiligen Vision geworden war. War es vielleicht kein Zufall, dass er etwas überleben musste, was noch kein anderer Mensch heil überstanden hatte? Bewies es, dass Shai-Hulud Pläne mit ihm hatte, dass er ein wichtiger Faden im kosmischen Gewebe war? Wenn jemand vom feurigen Finger Gottes berührt worden war, dann in jedem Fall Warrick.
Mit starrem Blick ging er wie unter Zwang weiter, bis er den Raum betrat, in dem Heinar mit dem Ältestenrat auf Matten am Boden saß. Die Fremen verstummten. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Warrick blieb im Eingang zur Kammer des Rats stehen.
»Ihr müsst einen Bringer ertränken«, sagte er. »Ruft die Sayyadina, damit sie die Zeremonie des Wassers des Lebens leiten kann. Ich muss es verwandeln ... damit ich meine Arbeit fortsetzen kann.« Er wandte sich um und schlurfte davon. Heinar und seine Gefährten blieben entsetzt und verwirrt zurück.
Kein Mann hatte jemals das Wasser des Lebens getrunken und es überlebt. Es war eine Substanz für Ehrwürdige Mütter, eine magische, hochgiftige Droge, die jeden tötete, der nicht darauf vorbereitet war.
Unbeirrt lief Warrick weiter in einen Gemeinschaftsraum, wo Heranwachsende Rohgewürz in Trögen zerstampften und unverheiratete Frauen Melangedestillat gerinnen ließen, um es zu Kunst- und Brennstoff weiterzuverarbeiten. An der Wand arbeitete ein Webstuhl mit hypnotisch regelmäßigem Surren und Klacken. Andere Fremen reparierten sorgfältig Destillanzüge und überprüften die Funktion der kunstvollen Mechanismen.
Mit Solarenergie betriebene Öfen erhitzten einen gesunden Getreideschleim, den die Sietch-Bewohner als leichtes Mittagessen zu sich nehmen würden. Größere Mahlzeiten fanden erst nach Sonnenuntergang statt, wenn die Wüste in der Dunkelheit kühler geworden war. Ein alter Mann sang mit näselnder Stimme ein Klagelied, in dem es um die Jahrhunderte der ziellosen Reisen ging, bis die Zensunni-Wanderer schließlich den Wüstenplaneten erreicht hatten. Liet-Kynes saß teilnahmslos neben zwei von Stilgars Guerilla-Kämpfern und trank Gewürzkaffee.
Alle Aktivitäten wurden eingestellt, als Warrick eintraf und zu sprechen begann. »Ich habe die große Zukunft Dunes gesehen. Es war das Paradies. Selbst Umma Kynes ahnt nichts von der Großartigkeit dessen, was Shai-Hulud mir offenbart hat.« Seine Stimme strich wie ein kalter Luftzug durch eine offene Höhle. »Ich habe die Stimme der Außenwelt gehört. Ich hatte eine Vision des Lisan al-Gaib, auf den wir gewartet haben. Ich habe den Weg gesehen, den die Legenden versprochen haben, den die Sayyadina versprochen haben.«
Ein Raunen ging durch die Fremen, als sie seine kühnen Worte hörten. Sie kannten die Prophezeiung. Die Ehrwürdigen Mütter hatten seit Jahrhunderten vorhergesagt, dass jemand kommen würde, und die Legende war von einem Stamm zum nächsten, von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden. Die Fremen warteten schon so lange, dass manche skeptisch geworden waren, doch andere glaubten daran – und sie fürchteten sich.
»Ich muss das Wasser des Lebens trinken. Ich habe den Weg gesehen.«
Liet führte seinen Freund vom Gemeinschaftsraum zurück zu Faroula, die sich gerade mit ihrem Vater unterhielt. Sie blickte zu ihrem Ehemann auf, als er eintrat. Ihr Gesicht war vor Resignation verhärmt, ihre Augen von tränenreichen Wochen gerötet. Ihr Baby, das in der Nähe auf einem Teppich hockte, begann zu weinen.
Der alte Naib warf Warrick und Liet einen Blick zu, dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu. »So wird es geschehen, Faroula«, sagte Heinar. »Die Ältesten haben entschieden. Es ist ein gewaltiges Opfer, aber wenn ... wenn er es wirklich ist, wenn er wirklich der Lisan al-Gaib ist, müssen wir tun, was er verlangt. Wir werden ihm das Wasser des Lebens geben.«
* * *
Sowohl Liet als auch Faroula bemühten sich, Warrick von seiner fixen Idee abzubringen, aber der geschundene Mann hielt hartnäckig an seiner Überzeugung fest. Er starrte mit lidlosen Augen, aber er konnte ihren Blick nicht erwidern. »Es ist mein Mashhad und mein Mihna. Meine spirituelle und religiöse Prüfung.«
»Woher willst du wissen, dass du nicht nur seltsame Geräusche im Wind gehört hast?«, bohrte Liet nach. »Warrick, wie kannst du dir so sicher sein?«
»Weil ich es weiß!« Angesichts seiner unerschütterlichen Zuversicht blieb ihnen keine Wahl, als ihm zu glauben.
Die alte Ehrwürdige Mutter Ramallo reiste von einem fernen Sietch an, um die Zeremonie vorzubereiten und zu überwachen. Fremen-Männer holten einen kleinen gefangenen Wurm, der nur zehn Meter lang war, und rangen mit ihm, ertränkten ihn im Wasser, das einem Qanat entnommen worden war. Als der Wurm starb und sein tödliches Gift absonderte, fingen die Männer die Flüssigkeit in einem flexiblen Behälter auf.
Mitten in der Zeremonie kehrte der Planetologe Kynes von seinen Anpflanzungen zurück. Doch er war so sehr in seine eigenen Gedanken vertieft, dass er die Bedeutung des Ereignisses überhaupt nicht erkannte. Nur dass es offenbar etwas Wichtiges war. Er entschuldigte sich unbeholfen bei seinem Sohn und bedauerte zutiefst, was mit Warrick geschehen war ... aber Liet erkannte, dass er eigentlich nur mit seinen Berechnungen und Plänen im planetaren Maßstab beschäftigt war. Sein Terraformungsprojekt durfte nicht einen Moment lang ruhen – nicht einmal, wenn die Chance bestand, dass Warrick der seit langem geweissagte Messias war, der die Fremen zu einer unbesiegbaren Streitmacht vereinigen würde.
Die Bevölkerung des Rotwall-Sietches versammelte sich in der großen Höhle. Auf der erhöhten Plattform sprach Heinar zu seinem Stamm, dann trat Warrick vor. Der verkrüppelte Mann wurde vom Naib und der mächtigen Sayyadina begleitet, die diesen Menschen seit mehreren Generationen gedient hatte. Die alte Ramallo war hart, ledrig und zäh wie eine Wüsteneidechse, die sich gegen einen Jagdfalken zur Wehr setzt.
Die Sayyadina rief die Wassermeister und stimmte die rituelle Litanei an. Die Fremen wiederholten die Worte, aber zurückhaltender als gewöhnlich. Manche glaubten daran, dass Warrick wirklich der war, der er zu sein behauptete, während andere nur auf das Beste hoffen konnten.
Ein Raunen erfüllte den Versammlungssaal. Unter normalen Umständen war die Teilnahme an der Tau-Orgie ein freudiges Ereignis, das nur zu äußerst bedeutenden Terminen stattfand – nach einem Sieg über die Harkonnens, der Entdeckung eines großen Gewürzvorkommens oder dem glücklichen Ausgang einer drohenden Naturkatastrophe.
Doch diesmal wussten die Fremen, wie viel auf dem Spiel stand.
Sie blickten in Warricks entstelltes Gesicht. Er stand ruhig und zuversichtlich da. Sie betrachteten ihn voller Hoffnung und Furcht und fragten sich, ob er ihr Leben verändern – oder auf grauenhafte Weise versagen würde, wie es in vergangenen Generationen mit allen Männern geschehen war.
Liet stand in den vordersten Reihen des Publikums neben Faroula und ihrem Baby. Sie hatte die Lippen zusammengepresst, die Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt und die Augen in ängstlicher Erwartung geschlossen. Liet spürte geradezu die Furcht, die sie ausstrahlte, und er hätte sie gerne getröstet. War es schlimmer für sie, wenn das Gift ihren Mann tötete ... oder wenn er überlebte und sein schweres tägliches Leben fortsetzte?
Die Sayyadina Ramallo beendete ihren Segen und reichte den Schlauch an Warrick weiter. »Nun soll Shai-Hulud entscheiden, ob deine Vision wahr ist – ob du der Lisan al-Gaib bist, auf den wir so lange gewartet haben.«
»Ich habe den Lisan al-Gaib gesehen«, erwiderte Warrick, um dann die Stimme zu senken, sodass nur noch die alte Frau ihn verstehen konnte. »Ich habe nicht gesagt, dass ich es bin.«
Die freiliegenden Knochen und Sehnen an Warricks Händen bewegten sich, als er den Trinkschlauch annahm und die Tülle an den Mund setzte. Ramallo presste den Beutel zusammen, und das Gift schwappte in seinen Rachen.
Er schluckte krampfhaft, immer wieder.
Die Fremen verstummten und wurden zu einer Menschenmasse, die versuchte, die Vorgänge zu begreifen. Liet glaubte zu hören, wie ihre Herzen im Gleichtakt schlugen. Er registrierte jeden flüsternden Atemzug und spürte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte. Er beobachtete und wartete.
»Der Falke und die Maus sind eins«, sagte Warrick, als er einen Blick in die Zukunft warf.
Nach wenigen Augenblicken entfaltete das Wasser des Lebens seine Wirkung.
* * *
Alles, was Warrick zuvor erlitten hatte, all die furchtbaren Qualen während des Sturms und die Schmerzen der Heilung waren nur ein kleiner Vorgeschmack auf den schrecklichen Tod, der ihn erwartete. Das Gift verteilte sich über alle Zellen seines Körpers und setzte sie in Brand.
Die Fremen glaubten, dass der entstellte Mann durch seine Vision in die Irre geführt worden war. Er raste und schlug um sich. »Sie wissen nicht, was sie geschaffen haben. Aus Wasser geboren, im Sand gestorben!«
Die Sayyadina Ramallo wich zurück wie ein Raubvogel, dessen Beute sich plötzlich gegen ihn wandte. Was hat das zu bedeuten?
»Sie glauben, sie hätten ihn unter Kontrolle ... aber sie täuschen sich.«
Sorgsam wählte sie ihre Worte und interpretierte sie durch den uralten, halb vergessenen Filter der Panoplia Propheticus. »Er sagt, er kann schauen, wohin andere nicht schauen können. Er hat den Weg gesehen.«
»Lisan al-Gaib! Er wird all das sein, was wir uns erträumen.« Warrick würgte so heftig, dass seine Rippen wie trockene Zweige knackten. Blut quoll zwischen seinen Zähnen hervor. »Aber nicht das, was wir erwarten.«
Die Sayyadina hob ihre Hände, die wie Klauen waren. »Er hat den Lisan al-Gaib gesehen. Er wird kommen, und er wird all das sein, was wir uns erträumen.«
Warrick schrie, bis ihm die Stimme versagte. Er zuckte krampfartig, bis er keine Gewalt über seine Muskeln mehr hatte, bis sein Gehirn ausgebrannt war. Die Bewohner des Bilar-Lagers hatten das Wasser des Lebens in starker Verdünnung getrunken und waren trotzdem unter grausamsten Qualen gestorben. Für Warrick wäre selbst ein solcher Tod eine Gnade gewesen.
»Der Falke und die Maus sind eins!«
Die Fremen konnten nur in hilflosem Entsetzen zuschauen, was mit ihm geschah. Warricks Todeszuckungen dauerten viele Stunden ... doch Ramallo brauchte wesentlich länger, um seine irritierenden Visionen zu deuten.